Agentic AI in der qualitativen Marktforschung: Potenziale, Praxis und Perspektiven
In meinem vorausgehenden Artikel habe ich einige Analysetools für die qualitative Forschung vorgestellt. Heute wollen wir einen Blick in die Zukunft werfen, die bereits begonnen hat. Das Stichwort heißt Agentic AI. Während viele der aktuell am Markt verfügbaren Tools bereits zahlreiche Arbeitsschritte deutlich erleichtern, geht Agentic AI noch einen Schritt weiter.
Mit dem Aufkommen von Agentic AI entstehen Systeme, die weit über die Rolle klassischer Assistenztools hinausgehen. Es handelt sich um autonome Agenten, die komplette Forschungsaufgaben eigenständig erledigen - von der Konzeption über die Durchführung bis zur Auswertung. Dabei verstehen sie Briefings, planen Abläufe, interagieren mit Teilnehmenden, analysieren Daten und generieren Insights - ohne dass ein Mensch jeden Einzelschritt anstoßen muss.
Stell dir vor, du könntest über Nacht dutzende Nutzerinterviews führen, deren Ergebnisse bis zum Morgen automatisch ausgewertet und in Insights verdichtet vorliegen. Was wie Science-Fiction klingt, wird mit Agentic AI zunehmend Realität.
Dieser Paradigmenwechsel eröffnet neue Spielräume für Unternehmen, die qualitative Forschung skalierbarer und schneller machen wollen. In diesem Beitrag möchte ich zeigen, was Agentic AI konkret leisten kann, wo sie bereits heute eingesetzt wird und worauf es bei der Einführung solcher Systeme ankommt.
Anwendungszenarien für Agentic AI
Automatisierte Interviews auf Chatbot-Basis: KI-gestützte Interviewbots können heute schon echte Dialoge mit Teilnehmenden führen. Sie stellen offene Fragen, haken nach und passen sich den Antworten an - ähnlich wie ein menschlicher Moderator. Der Clou: Ein einzelner KI-Interviewer kann Hunderte Gespräche gleichzeitig führen, rund um die Uhr und in verschiedenen Sprachen. Konvolo zum Beispiel erlaubt neben dem Einsatz von Text- und Stimm-Moderation auch die Videomoderation. Dabei kann sogar der Tonfall vorbestimmt werden. Wondering verfügt über ein eigenes Teilnehmerpanel aus vielen Ländern.
Der nächste Schritt wäre, dass die KI den Fragebogen und Screener erstellt, Teilnehmende automatisch einlädt, die Interviews durchführt, auswertet und bei Bedarf zielgruppengerechte Berichte erstellt. Doch das ist noch Zukunftsmusik - und wir dürfen nicht vergessen, dass die Ergebnisqualität ohne menschliche Kontrolle nicht sichergestellt werden kann. In jedem Fall lässt sich die Stichprobe qualitativer Studien drastisch erhöhen, ohne Abstriche bei der Tiefe der Befragung machen zu müssen. So lassen sich qualitative Einblicke in quantitativer Breite gewinnen - ein bislang unerreichter Vorteil. Dasselbe gilt für Fokusgruppen.
Explorative Analysen vorhandener Informationen und externer Wissensquellen leisten ebenfalls einen wichtigen Beitrag. Moderne KI-Analysetools (oft basierend auf LLMs) helfen, Hypothesen zu bilden und Themen zu clustern, die im Research-Prozess hilfreich sind. So können zum Beispiel auch Social-Media-Feedbacks ausgewertet werden - und das in Sekunden, wofür Menschen Wochen benötigen würden. Die KI clustert Antworten thematisch (z. B. positive Rückmeldungen, Preisbeschwerden, Feature-Wünsche), erkennt Stimmungen und identifiziert Muster, die leicht übersehen werden können. Der Agent kann diesen Prozess automatisch anstoßen, regelmäßig informieren oder bei Auffälligkeiten oder Veränderungen Alarm schlagen.
Insights-Bots arbeiten auf bereits vorhandenen Erkenntnissen. Sie ermöglichen den Zugriff auf bestehendes Wissen - etwa aus älteren Studien, Transkripten oder Reports - über ein Chatinterface. So lassen sich frühere Ergebnisse effizient wiederverwenden, vergleichbare Studien einordnen oder Ad-hoc-Fragen durch Knowledge Bases beantworten. Im Zusammenspiel mit explorativen Agenten entsteht ein leistungsstarkes System aus Vergangenheit und Zukunft qualitativer Forschung.
Diese Anwendungen sind kein ferner Zukunftstraum - viele Organisationen experimentieren bereits mit ihnen.
Der Mehrwert für Unternehmen
Agentic AI revolutioniert die Forschungspraxis durch erhebliche Effizienzgewinne und neue Skalierungsoptionen: KI-gestützte Research-Agenten erledigen in wenigen Stunden, was früher Wochen dauerte. Studien zeigen, dass ihre Ergebnisse zu rund 85 % mit denen klassischer Methoden übereinstimmen[1], jedoch deutlich schneller vorliegen - und dadurch agile Entscheidungen ermöglichen. Zugleich erlaubt Agentic AI die parallele Befragung Hunderter Teilnehmender und die Analyse Tausender offener Antworten - eine neue Dimension der Skalierbarkeit, die qualitative Tiefe mit quantitativer Reichweite verbindet. Auch ökonomisch bietet sie Vorteile: geringere Kosten durch Automatisierung und effizientere Ressourcennutzung.
Agentic AI liefert Entscheidungsvorlagen in Echtzeit und ermöglicht eine neue Form von kontinuierlicher Nutzerzentrierung und schafft zusätzliche Freiräume für strategische Reflexion.
Agentic AI sicher einsetzen: Worauf es ankommt
Trotz aller Vorteile muss der Einsatz von Agentic AI im Research gut durchdacht und kontrolliert sein. Der Erfolg beginnt beim Prompt Design: Ein KI-Agent braucht klare Rollen, Ziele und Grenzen - etwa als "Research-Assistent", der Feedback auswertet, ohne sensible Daten zu verwenden.
Besonders im Research-Kontext sind Datenschutz und Ethik unverzichtbar - sensible Kundeninformationen dürfen nur nach Einwilligung verarbeitet und müssen ggf. anonymisiert werden.
Ein Mensch im Loop sollte an sensiblen Stellen eingreifen - etwa bei Eskalationen oder der Ergebnisfreigabe. Transparenz ist ebenso wichtig: Teilnehmende müssen wissen, wenn sie mit einer KI sprechen, und Nutzer im Unternehmen müssen der KI vertrauen können.
Und KI hat Grenzen. Sie erkennt keine Zwischentöne, kann halluzinieren und wirkt weniger empathisch. Am besten funktioniert sie als Ergänzung zum Menschen - nicht als Ersatz.
Beratung und Implementierung: Mein Ansatz
Ich unterstütze Organisationen dabei, Agentic AI sinnvoll in ihre Research- und UX-Prozesse zu integrieren - vom ersten Klärungsgespräch bis zur Umsetzung eines passenden Anwendungsfalls.
Konkret umfasst das:
- die Auswahl geeigneter Tools und Plattformen,
- die Entwicklung von Prototypen oder Pilotprojekten,
- die Begleitung von Teams im Umgang mit KI-basierten Workflows,
- sowie die Vermittlung realistischer Erwartungen gegenüber internen Stakeholdern.
Wichtig ist mir ein pragmatischer Einstieg: Nicht jede Organisation braucht sofort eine umfassende Lösung. Häufig genügt ein begrenzter Use Case - z. B. die automatisierte Auswertung offener Antworten oder ein KI-gestütztes Interview zu einem Produktkonzept - um erste Erfahrungen zu sammeln und den Mehrwert einzuschätzen.
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[1] The Research Society (2023). The power of AI research agents in research. Abgerufen am 8. Mai 2025 von https://www.researchsociety.com.au/news-item/17657/the-power-of-ai-research-agents-in-research